1636 SchUM-Stätten von Speyer, Worms und Mainz

Die jüdischen Gemeinden der drei im Mittelalter bedeutenden und miteinander kooperierenden Städte Speyer, Worms und Mainz gelten als Geburtsstätte der aschkenasischen religiösen Kultur. Die dort entstandenen Minhagim (Bräuche) und Takkanot (Vorschriften) wirken im orthodoxen Judentum bis heute.

Zum Kern des Bewerbungsantrags gehören der Judenhof und die Synagoge in Speyer, der Synagogengarten und der Friedhof Heiliger Sand in Worms und der Jüdische Friedhof in Mainz. Der Vorschlag gehört zur bisher unterrepräsentierten Kategorie der jüdischen Stätten.

 

Im Juli 2021 hat das Welterbekomitee die SchUM-Stätten in Speyer, Worms und Mainz zum UNESCO-Welterbe ernannt. Dazu gehören der Speyerer Judenhof, der Wormser Synagogenbezirk sowie die alten jüdischen Friedhöfe in Worms und in Mainz.

Drei Städte – ein gemeinsames jüdisches Erbe seit dem Mittelalter

Als Verbund der SchUM-Städte bildeten Mainz, Worms und Speyer im Mittelalter das Zentrum des Judentums in Europa. Von der wechselvollen Geschichte der drei Gemeinden erzählen bis heute Bauwerke und Friedhöfe, die zu den ältesten Zeugnissen jüdischen Lebens in Deutschland gehören.

Die alten Grabsteine sind mit Moos und Flechten überwachsen, viele sind in dem weichen Grasboden abgesackt und ragen schief aus der Erde. Andere stehen auch nach Jahrhunderten noch aufrecht, verziert mit langen hebräischen Inschriften. Der Mainzer Judensand ist der älteste jüdische Friedhof in Europa, sein frühester Grabstein stammt aus dem Jahr 1049. Die gut drei Hektar große Begräbnisstätte ist das letzte verbliebene Monument, das heute von der mittelalterlichen Blütezeit der jüdischen Gemeinde in Mainz zeugt – der Muttergemeinde des so genannten SchUM-Verbunds, dem außerdem noch Speyer und Worms angehörten. Die Bezeichnung setzt sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben der drei hebräischen Städtenamen: Schpira, Warmaisa und Magenza.

Wie lebendig das jüdische Erbe hier bis heute ist, zeigen die vielen Steine und Papierzettel, die jüdische Besucherinnen und Besucher an einzelnen Grabsteinen hinterlassen. „Wir stehen hier an den Gräbern jüdischer Gelehrter, die das Judentum nachhaltig beeinflusst haben“, erklärt Aharon Ran Vernikovsky, Rabbiner der jüdischen Gemeinde. „Die Art und Weise, wie wir jüdische Theologie heute verstehen und anwenden, ist ohne den Beitrag der SchUM-Gelehrten nicht vorstellbar. Sie haben hier vor 1.000 Jahren religionsrechtliche Reformen und religiöse Gesetze erlassen, Liturgien und Gebete verfasst, die wir bis heute benutzen.“ Das Verbot der Polygamie im europäischen Judentum gehöre zum Beispiel dazu, zählt Vernikovsky auf, eine Reform des Scheidungsrechts, die die Position der Frauen stärkte, und sogar das Briefgeheimnis hätte seinen Ursprung in den SchUM-Städten.

Mittelalterliches Stadtentwicklungsprojekt Im Speyerer Museum SchPIRA steht Matthias Nowack, der städtische SchUM-Koordinator, vor einem großen, auf den Fußboden gezeichneten Plan des mittelalterlichen Stadtkerns. Gut erkennbar ist der imposante Dom im Zentrum, nur einen Steinwurf vom Domplatz entfernt führen enge Gassen in das historische Judenviertel. „Die enge Nachbarschaft zwischen Dom und jüdischem Viertel war im Mittelalter außergewöhnlich“, sagt Nowack. „Der Bischof von Speyer holte im Jahr 1084 jüdische Familien in die Stadt, indem er ihnen weitreichende Privilegien und Grundstücke anbot. Heute würden wir sagen: Das war ein Stadtentwicklungsprojekt.“ Der Judenhof war einst das religiöse Zentrum des jüdischen Viertels. Heute stehen hier die Überreste der rituellen Bauwerke: eine 1104 errichtete Synagoge, direkt daneben die so genannte Frauenschul aus dem 13. Jahrhundert, in der Frauen die Gottesdienste verfolgten, sowie eine Mikwe, ein jüdisches Ritualbad. Im Boden verborgen liegen zudem die Fundamente der Jeschiwa – hier unterrichteten die Religionsgelehrten ihre Studenten.

Während von Synagoge und Frauenschul nur noch Mauerreste stehen, hat die Mikwe weitgehend unbeschadet überdauert. Breite Steinstufen führen elf Meter in die Tiefe bis zu dem unterirdischen Wasserbecken, durch das langsam das Grundwasser strömt. In einem Vorraum auf halber Strecke konnten die Gläubigen sich in einer Nische entkleiden, von hier ließ sich auch durch große Fenster überwachen, ob die Badenden mit dem gesamten Körper untertauchten, wie es das Ritual verlangt. „Die Mikwe ist um 1120 erbaut und damit die älteste dieser Bauart in ganz Europa“, erklärt Nowack. „Auffällig ist die Ähnlichkeit zu christlichen Bauwerken der Zeit, was die Bauzier angeht. Das lässt auf eine enge Zusammenarbeit zwischen den christlichen Handwerkern und der jüdischen Gemeinde schließen.“ Dass die Speyerer Mikwe bis heute eine besondere Bedeutung habe, sehe man auch daran, dass ein Modell von ihr heute im Museum in Tel Aviv stehe. Und immer wieder käme es vor, dass jüdische Touristinnen und Touristen anfragen, ob sie in die Mikwe eintauchen könnten, sagt Nowack. „Heute ist das allerdings kein religiöser Ort mehr, sondern ein kulturelles Monument.“

Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau

Unter Rundbögen laden in die Mauern eingelassene Steinbänke im Wormser Synagogenhof zum Verweilen ein, bunte Blumen leuchten hinter den niedrigen Mauern, in einer benachbarten Kita hört man Kinder spielen. An der schlichten Synagoge ist für das geschulte Auge eine lange Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau ablesbar. Zuletzt wurde sie 1961 wiedererrichtet, nachdem die Nationalsozialisten die Synagoge 1938 in Brand gesteckt hatten. „Nur die Grundmauern sind dabei erhalten geblieben und viele einzelne Teile der Architektur“, erzählt Stefanie Hahn, die Leiterin der Stabsstelle UNESCO-Welterbeantrag SchUM-Stätten beim Land Rheinland-Pfalz. „Engagierte Bürger haben unter anderem die Portale und Fenstereinfassungen geborgen und vor den Nationalsozialisten gesichert. Später wurden sie dann wieder eingebaut.“ Keine gesicherten Überreste gibt es hingegen von der ersten Synagoge am Platz. Nur eine Steintafel in der Fassade – die im Original erhaltene Stifterinschrift – erinnert auf Hebräisch an Jakob ben David und seine Frau Rahel, die an dieser Stelle eine 1034 geweihte Synagoge stifteten – sie wurde bei antijüdischen Pogromen während des ersten Kreuzzugs 1096 beschädigt und im 12. Jahrhundert durch ein neues Gebäude ersetzt.

Um die Synagoge herum spielte sich das jüdische Leben der Gemeinde ab. Die Wormser Mikwe stammt von 1185/1186 und ist von dem Ritualbad in Speyer inspiriert. Ab 1212 ergänzte ein Anbau mit der ältesten bekannten Frauenschul die Synagoge. Wenig später übernahm die Speyerer Schwestergemeinde die Anregung, Frauen einen eigenen Raum zum Beten einzurichten – der Kontakt zwischen den Städten war eng. Im 17. Jahrhundert kam eine Jeschiwa für das religiöse Studium hinzu. Für Zusammenkünfte und festliche Anlässe stand wenige Meter entfernt das „Tanzhaus“ zur Verfügung, der Nachfolgebau beherbergt heute das Stadtarchiv und das jüdische Museum. „In Worms ist die komplette mittelalterliche Infrastruktur heute noch erhalten, das ist in Deutschland einzigartig“, sagt Hahn.

Neben dem Synagogenbezirk gehört dazu auch der Friedhof Heiliger Sand. Die ältesten der rund 2.500 erhaltenen Grabsteine stammen von 1058, die jüngsten aus den 1930er Jahren. Wie auf dem Mainzer Judensand sind auch hier die oft langen Grabinschriften eine wichtige historische Quelle, um mehr über das Leben in den SchUM-Gemeinden zu erfahren. „Aus Grabinschriften wissen wir zum Beispiel, dass es hier schon im 13. Jahrhundert Kantorinnen gab, die in der Frauenschul gesungen haben“, erklärt Hahn. Andere Grab- und Gedenksteine erinnern an Märtyrer, die bei Pogromen ums Leben gekommen sind.

Christlich-jüdische Begegnung in all ihren Facetten

„Die Geschichte der SchUM-Gemeinden spiegelt die christlich-jüdische Begegnung in all ihren Facetten wider“, sagt Hahn. „Dazu gehört das Gute, zum Beispiel der Austausch mit christlichen Baumeistern, der diese hervorragenden Monumente hervorgebracht hat. Auf der anderen Seite ist es eine Geschichte von Verfolgung und Zerstörung bis hin zum Völkermord der Shoah. Trotzdem haben Jüdinnen und Juden immer wieder an diese Orte angeknüpft, bis hin zu den heutigen jüdischen Gemeinden.“ Ähnlich sieht es auch Rabbiner Vernikovsky: „Die SchUM-Geschichte ist sehr ambivalent und auch voller Tragik. Aber es gibt diese Monumente noch und ihre Geschichte wird noch immer erzählt, das ist mir sehr wichtig. Ich hoffe sehr, dass der Status ‚Welterbe‘ dazu beiträgt, dass wir jüdische Geschichte in Zukunft noch besser vermitteln können.“

Quelle: UNESCO.de

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